Forschung & Projekte

Das korporatistische Europa rekonstruieren

Die Wirtschafts- und Sozialordnung Westeuropas und ihre Übergänge zwischen Korporatismus und Neoliberalismus vom 19. zum 20. Jahrhundert


Auszug aus einem Essay des französischen christlich-sozialen Gewerkschafters Louis Terrenoire (1908–1992) aus dem Jahr 1939. Später schloss er sich der Résistance an. Nach 1945 war er ein einflussreicher Europapolitiker und verfolgte unter de Gaulle die Idee des demokratischen Korporatismus weiter.

Der Begriff „Korporatismus“ war seit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre in ganz Europa populär. Politiker, Arbeitgeber, Gewerkschafter, Intellektuelle, Politologen und Ökonomen forderten eine stärkere Beteiligung der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände an der staatlichen Gesetzgebung.

Dabei griffen einige von ihnen auf eine alte „korporatistische“ Gesellschaftsordnung aus dem Mittelalter zurück. Allerdings wollten nicht alle Korporatisten den „schwachen“ Parlamentarismus ihrer Zeit abschaffen, sondern die Demokratie mit dem politischen Einfluss der Wirtschaftsverbände verbinden. Diese Forderung ist ein wichtiger, wenn auch oft vernachlässigter Teil der entstehenden sozialen Marktwirtschaft nach 1945, die aus einem komplexen Aushandlungsprozess zwischen sozialdemokratischen und neoliberalen Kreisen sowie Vertretern der katholischen Soziallehre hervorging.


Es gibt mindestens zwei Gesichter des Korporatismus. Da sich die Forschung jedoch hauptsächlich auf den autoritären Korporatismus – in Österreich, Italien, Portugal und anderen diktatorischen Staaten – konzentrierte und den demokratischen Korporatismus weitgehend ignorierte, tun wir uns immer noch schwer, den Wandel Westeuropas in der Mitte des 20. Jahrhunderts hin zu liberaler Demokratie und liberalem Kapitalismus zu verstehen. Hier setzt mein Postdoc-Projekt an: Es verfolgt die korporatistischen Konzepte der Nachkriegszeit zurück zu Praktikern, Politikern und Theoretikern, die in der Zwischenkriegszeit oder noch früher Elemente eines demokratischen Korporatismus propagierten, wenn auch begleitet von ambivalenten Konnotationen, die von Antiliberalismus bis hin zu Demokratieskeptizismus reichen.

Mein Postdoktorandenprojekt ist eine länderübergreifende Geschichte des demokratischen Korporatismus. Da Verbände und andere Wirtschaftsgesellschaften nach wie vor einen Eckpfeiler des heutigen organisierten Kapitalismus darstellen, bietet das Projekt Einblicke in die Grundstrukturen einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik und deren Wesen zwischen Freiheit und Ordnung. Mein Projekt zielt darauf ab, die Kontinuitäten und Anpassungen korporatistischer Praktiken seit dem 19. Jahrhundert aufzudecken.


Wo wurde der demokratische Korporatismus unterstützt? Wie wurde der Korporatismus „demokratisiert“ und mit dem Liberalismus versöhnt? Neben Italien, Österreich und Deutschland werden Frankreich, die Niederlande, Belgien und die Schweiz besonders berücksichtigt. Ich skizziere auch, wie sich korporatistische Elemente in den Verfassungen mehrerer Länder auf die öffentliche Meinung auswirkten: das Gefühl, der anonymen Macht der Unternehmensverbände ausgesetzt zu sein. Seit den 1950er Jahren wurden Rufe gegen den Korporatismus und für eine Rückkehr zur „echten Demokratie“ laut.

Meine Studie befasst sich mit westeuropäischen Denkern, Politikern und Praktikern, die seit den 1920er Jahren für eine korporatistische und demokratische Wirtschaftsordnung eingetreten sind. Diese „demokratischen Korporatisten“ liberaler, katholisch-konservativer und sozialdemokratischer Konfession forderten eine Wirtschaftsordnung in einem demokratischen Rahmen, die den Staat von Aufgaben entlastet und gleichzeitig den Einfluss der Wirtschaftsverbände auf die Politik stärkt. Eine Studie, die den Aufstieg des demokratischen Korporatismus untersucht, den Transfer von Ideen und Praktiken zwischen den Ländern beschreibt und insbesondere die Kluft zwischen den Theorien der Zwischenkriegszeit und der sozialen Marktwirtschaft nach 1945 überbrückt, steht noch aus.

Für weitere Informationen siehe auch meine Website beim Oxford Center for European History und meinen Artikel über das Terrassenrestaurant „Rerum Novarum“ an der Weltausstellung 1935 in Brüssel.


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